Humanismus und Veganismus
Welche Gemeinsamkeiten kann es zwischen Humanismus und Veganismus geben? In manchen humanistischen Strömungen steckt latent noch immer jener Speziezismus, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt, ihn nicht aber als Teil der gesamten Lebenswelt betrachtet. (http://dx.doi.org/10.13140/2.1.3994.2406)
Christoph Maria Herbst, ein prominenter Schauspieler und bekennender Veganer, kommentierte gar zum Erscheinen eines neuen Buchs zur Tierethik, dass hier der Humanismus nun als »Animalismus« neu definiert werde (vgl. Sezgin 2014: 3).
Richard Kahn, University of North Dakota, räumt ein, dass zwar ein interdisziplinärer posthumanistischer Diskurs zunehmend solche Bereiche wie »Mensch-Tier-Studien« hervorbringe und dass diese Entwicklungen als Gelegenheit wahrgenommen werden könnten, die lange Tradition speziezistischer Forschung zu brechen. Er befürchtet aber, dass ein Posthumanismus oder andere Studienrichtungen, die sich von den Erfordernissen einer konsequenten Befreiung der Tiere aus den bisherigen Paradigmen distanzieren, kaum für mehr als sogar die Untergrabung der tierlichen Standpunkte sorgen könnten, zumindest solange sie ihre Ziele zugunsten von Berufsprestige und konservativen politischen Sichtweisen beschränken (vgl. Kahn 2011: 66).
Muss also ein Humanismus, der den Menschen als Teil der Welt und nicht mehr als ihre Krönung betrachtet, tatsächlich umgeschrieben werden zu einem »Transhumanismus« oder »Animalismus« - im Gegensatz zum Hominismus?
Diese Frage kann inzwischen verneint werden, da immer mehr humanistische Denker und Forscher das anthropozentrische Paradigma bereits überwunden haben.
Beispiele dafür seien u. a. Frans de Waal, Martha Nussbaum und Henk Manschot.
1. Empathie und Kooperation fördern das Zusammenleben
Empathie, Kooperation, Fairness und Reziprozität gelten als typisch menschliche Züge. Die Sorge um das Wohl der anderen erscheint uns als eine Besonderheit unserer Spezies.
Frans de Waal verweist aber auf Verhaltenstests bei Primaten und anderen Säugetieren, die uns zeigen, wie viele ihrer moralischen Züge wir mit ihnen teilen (vgl. TED 2013). Der in den USA lebende niederländische Primatenforscher entdeckte typisch menschliche Verhaltensweisen unter Primaten, etwa im Umgang mit behinderten Artgenossen (vgl. Waal 2013).
Zu seinem Buch »Das Prinzip Empathie« erläutert Frans de Waal, dass der Mechanismus zur Empathie zwischen verschiedenen Spezies von den anderen Spezies aktiviert werde. Er argumentiert, dass Sozialdarwinisten die falschen Lehren aus der Natur gezogen hätten:
Wilder Wettbewerb, rücksichtslose Ausbeutung und Betrug seien weit entfernt von den Normen der Tiere, die in sozialen Gruppen leben. Sie gedeihen vielmehr aufgrund von Kooperation, Schlichtung und der Empathie, die sie gegenüber anderen Mitgliedern zeigen. (Vgl. Waal 2011)
2. Fähigkeiten wollen ausgeübt werden
Auch die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum schlägt eine Brücke zwischen Mensch und Tier, denn sie sieht Gemeinsamkeiten in der Art der Lebenswünsche bei Menschen und Tieren.
Ihr sogenannter Fähigkeitenansatz, der das gelungene menschliche Leben als eines betrachtet, in dem zentrale Fähigkeiten ausgeübt werden können, beinhaltet, dass diese Fähigkeiten sich kulturübergreifend bestimmen lassen.
Nussbaum zählt zu ihnen Leben, Gesundheit, Unversehrtheit, den Gebrauch des eigenen Verstandes, das Gefühlsleben, das Eingehen sozialer Beziehungen, Kontrolle über die eigene Umwelt sowie das Spiel. Ihr »liegt der intuitive Gedanke zugrunde, dass wir von einer bestimmten Konzeption der Würde des Menschen und eines dieser Würde gemäßen Lebens ausgehen sollten – eines Lebens, das die Möglichkeit ‚wahrhaft menschlichen Tätigseins’ eröffnet« (Nussbaum 2010: 110).
Martha Nussbaum, die im Jahr 2009 wegen ihrer Auseinandersetzung mit wichtigen Themen zu menschenwürdigem Leben gleichzeitig mit Frans de Waal mit einem Ehrendoktorat der Universiteit voor Humanistiek, Utrecht, ausgezeichnet wurde, überträgt den Begriff der Würde anschließend auch auf Tiere und wendet ihre Theorie ebenfalls auf sie an (vgl. Nussbaum 2010: 484; 528 ff.).
3. Ernstnehmen der Fähigkeiten und Bedürfnisse aller
Die deutsche Philosophin und Tierethikerin Hilal Sezgin greift Nussbaums Liste der zehn Fähigkeiten in Bezug auf Tiere auf und schlägt vor, ihr den Punkt »Ausüben artspezifischer Tätigkeiten« hinzuzufügen, worunter sie typische Verhaltensmuster freilebender Tiere versteht (vgl. Sezgin 2014: 187f.).
Sie unterstreicht, dass Nussbaums Ansatz kompatibel zur Biologie sei und Tiere hier verstanden werden als Lebewesen mit Fähigkeiten und Bedürfnissen, die sie ausüben und befriedigen wollen (vgl. Nussbaum 2010: 188).
4. Zu einem anthropokosmischen Paradigma
Harry Kunneman sieht den Neoliberalismus unserer Zeit als Grund dafür, dass die Menschen ihren Blick auf die Entfaltungsmöglichkeiten freier Individuen immer erfolgreicher andere Lebensformen auf der Erde systematisch verkleinerten.
Einerseits geschehe das durch stetiges Verkleinern der Biodiversität und der Populationen von Pflanzen und Tieren, andererseits auch existenziell, indem man enorm vielen Hühnern, Schweinen, Kühen und Fischen etc. eine industrialisierte Lebensweise aufzwinge, in der ihr Leben darauf reduziert werde, schnellstmöglich in einer industriell erwünschten Form und Richtung zu wachsen, um damit zu effektiv wie möglich ökonomisch genutzt zu werden (vgl. Kunneman 2013: 9).
Die Unterscheidung zwischen Menschen und anderen Lebewesen auf der Erde sei in der Moderne eines der beiden Prinzipien für die Sicht auf das Verhältnis des Menschen zum Rest der Welt geworden, fokussiert der Humanismusforscher Henk Manschot.
Das andere der beiden Prinzipien sei eine technologische und instrumentalisierende Haltung gegenüber diesen anderen Lebewesen, die im zweiten Schritt auch dazu führte, dass der Mensch als Objekt behandelt oder als Instrument benutzt wurde (vgl. Manschot 2009: 64 f.).
Er kritisiert, dass die Sicht auf die Entwicklung des menschlichen Lebens sich von einer ganzheitlichen Sicht einer größeren Lebensgemeinschaft, der Biosphäre, gelöst habe, und fordert, dass die zentralen Werte der Humanität aus der Perspektive dieser größeren Lebensgemeinschaft neu durchdacht werden müssten: im Sinne eines Übergangs von einem anthropozentrischen zu einem anthropokosmischen Weltbild (vgl. Manschot 2009: 67).
So entwirft er drei orientierende Ansätze, die dazu beitragen sollen, von einem menschenzentrierten zu einem kosmozentrierten Weltbild zu gelangen (vgl. Manschot 2009: 68):
- eine evolutionsbezogene Sicht, die zu einer Evaluation der Modernität im breiteren Kontext einer Kosmogenese führt;
- eine Ausweitung der Verantwortung des Menschen für das gesamte Leben auf diesem Planeten und nicht nur für seine eigene Art;
- sowie die Forderung an sinnstiftende Institutionen der Weltanschauung und Kultur nach einer expliziten Auseinandersetzung mit dieser Transformation.
5. Zukunft sicherstellen
In Abhängigkeit und Widerspruch zu den Bedürfnissen der menschlichen Erdbewohner stehen für andere Forscher auch die Zukunftsaussichten ihrer Erde. Diese zu gefährden ist von »nonhuman animals«, also den Tieren, kaum zu befürchten, dafür umso mehr von den Menschen, die sich einerseits uneingeschränkt vermehren können und andererseits sich immer mehr auf eine ressourcenverschlingende Ernährung verlegt haben.
Das Thema Ernährung kommt bei den zuvor zitierten humanistischen Autoren nicht vor, obgleich ihr eine unübersehbar gewichtige Rolle bei der Nutzung der Erde, ihrer Lebewesen, der Ökonomie und Ökologie zukommt.
Hierzu wäre ein passender humanistischer Ansatzpunkt hilfreich, um auch die ernährungsorientierten Wertesysteme der Menschen zu prüfen, die letztlich nicht unabhängig von den grundlegenderen Fragen des Menschenwohls, des Tierwohls, des Tierschutzes und der Ethik des Umgangs mit anderen Lebewesen behandelt werden können.
Eine Vorgehensweise wäre ferner, Möglichkeiten der »Suffizienz« im Gegensatz zu einer auf Wachstum orientierten »Effizienz« zu klären. Solche sowie weitere Instrumente und Methoden und ernährungsrelevante Umweltwirkungskategorien hat der Ernährungswissenschaftler Toni Meier zusammengestellt und zu nutzbaren Ergebnissen verwendet (vgl. Meier 2014). Sie könnten auch für den humanistischen Diskurs hilfreich sein.
6. Ökologische Verantwortung
Das Verständnis einer Verantwortung des Menschen für das Leben aller auf der Erde sieht Henk Manschot bereits vielfach bei jenen Initiativgruppen als gegeben an, die sich für eine ökologische Wiederbelebung engagieren und für die der Humanismus eine Quelle der Inspiration sein könnte.
Denn der Humanismus verbinde sich nachdrücklich mit den modernen Werten von Freiheit, Autonomie und Wertigkeit des Menschen, so Manschot.
Und nun könne eine Brücke gebaut werden zwischen der Moderne und der Zukunft - Manschot spricht gar von einer humanistisch-kosmologischen Sicht, somit von einem tatsächlichen Paradigmenwechsel (vgl. Manschot 2009: 80).
7. Gemeinsame Motive
Es lassen sich angesichts der zuvor dargelegten Positionen heutiger Humanisten - insbesondere aufgrund des humanistisch-kosmologischen Ansatzes - mehrere Gemeinsamkeiten in den Grundmotiven beobachten.
Denn die »Veganisten« - im Sinne einer ganzheitlichen veganen Lebensweise bzw. Weltanschauung - nennen die folgenden Motive für ihren Lebensstil (vgl. Grube 2006: 4), wobei diese Motive aber meist nicht bei jedem Einzelnen den Status eines Hauptmotivs erreichten:
- Ethisch-moralische Motive - z. B. Mitleid mit Tieren, Gleichbehandlung von Mensch und Tier, Einstellung gegen Speziesismus
- Gesundheitliche Motive - z. B. Vorbeugung vor bzw. Heilung von Erkrankungen, Steigerung der Leistungsfähigkeit und des Wohlbefindens
- Ökologische Motive - z. B. Überfischung, Wasserverschmutzung, Treibhauseffekt, Abholzung des Regenwaldes durch Überweidung
- Ökonomische Motive - z. B. Welthungerproblem durch ungleiche globale Rohstoffverteilung, Konsumvermeidung
- Religiöse Motive - z. B. Töten als Unrecht bzw. Sünde, Fleischverzehr als religiöses Tabu, Freisetzung geistiger Kräfte
Somit werden sich mit Veganern geteilte Positionen und Werte bestimmen lassen, die nahelegen, den Veganismus als Teil des humanistischen Diskurses zu entdecken und ihm dort nachhaltig Raum zu gewähren.
8. Ein »Humanismus 2.0«
Hatte der Vegetarierbund Deutschland (VEBU) im Dezember 2013 die Zahl der Veganer noch mit 800.000 angegeben, geht er seit Mai 2014 von 50 % mehr aus: von 1,2 Millionen. Somit leben inzwischen 1,5 Prozent der Menschen in Deutschland vegan.
Viele von ihnen lassen in den zahlreichen Facebook-Gruppen erkennen, dass sich nicht nur ihre Ernährung, sondern auch ihre Weltanschauung verändert. Ein Miteinander von Mensch und Tier sowie die Verantwortung des Menschen für das Leben aller Lebewesen auf der Erde (vgl. Manschot oben unter 4.) stehen in ihrer Wahrnehmung bei den großen westlichen Religionsgemeinschaften jedoch nicht im Vordergrund.
Daher kann die humanistische Bewegung hierzulande und auch international zunehmend an Attraktivität und an Interesse aus den Reihen der Veganer gewinnen, wenn sie den anthropokosmischen Entwurf von Manschot aufgreift und ihn akademisch - auch mit Blick auf die Motivationsfelder der veganen Bewegung - zu einem »Humanismus 2.0« weiterentwickelt.
9. Vegane Kommunikation erforschen
Gegenstand der Arbeit des Instituts HCRI und seiner Publikationen sind Untersuchungen zu bestehender Kommunikation und zur Entwicklung neuer Kommunikationsgestaltungen und Medienkonzeptionen, dabei die wissenschaftlichen Methoden und Quellen der Humanistik nutzend.
Mit seiner Schriftenreihe zur veganen Kommunikationsforschung bringt das HCRI Fragestellungen des Veganismus als Untersuchungsgegenstand der humanistischen Kommunikation in konkreten Kontexten ein.
Dabei werden auch ökonomische Themen Eingang finden, sofern sie mit heutigen medialen Kommunikationsformen gekoppelt zu untersuchen sind.
QUELLEN
- Grube, Andrea (2006): »Vegane Lebensstile - Zusammenfassung«. Abgerufen am 08.07.2014 von https://www.vebu.de/attachments/Vegane_Lebensstile__Angela_Grube__Kurzfassung%5B1%5D.pdf.
- Kahn, Richard (2011): »Towards an Animal Standpoint: Vegan Education and the Epistemology of Ignorance«. In: Malewski, Erik; Jaramillo, Nathalia E (Hrsg.) Epistemologies of ignorance in education. Charlotte, N.C.: Information Age Pub. S. 53–70.
- Kunneman, Harry (2013): Kleine waarden en grote waarden. Normatieve professionalisering als politiek perspectief. Amsterdam: Humanistics University Press.
- Manschot, Henk (2009): »Leven op aarde: het verhaal van de mens. Over Evolutie, Ecologie en Humanisme«. In: Alma, Hans; Smaling, Adri (Hrsg.) Waarvoor je leeft - Studies naar humanistische bronnen van zin. Amsterdam: SWP S. 59–83.
- Meier, Toni (2014): Umweltschutz mit Messer und Gabel. Der ökologische Rucksack der Ernährung in Deutschland. München: oekom-Verlag.
- Nussbaum, Martha Craven (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit: Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin: Suhrkamp.
- Sezgin, Hilal (2014): Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen. München: Verlag C.H. Beck.
- TED (2013): »Frans de Waal: Moral behavior in animals | Talk Video | TED.com«. Abgerufen am 04.07.2014 von http://www.ted.com/talks/frans_de_waal_do_animals_have_morals.
- Waal, Frans B. M. de (2011): Das Prinzip Empathie: was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können. München: Hanser.
- Waal, Frans B. M. de (2013): »Has militant atheism become a religion? - Salon.com«. Abgerufen am 04.07.2014 von http://www.salon.com/2013/03/25/militant_atheism_has_become_a_religion/.
Publikationen
- Veganes per Facebook kaufen. Explorative Studie zu Social Commerce in einem Nischenmarkt (2014). München: BookRix
- Humanismus und Veganismus (Working Paper, 2014). ResearchGate. DOI
- Communication and Diet Choices. Motivation Triggers of a Vegan Lifestyle (in Vorbereitung)