Journalistische Wirklichkeitsangebote
Wie »wahr« können Medienberichte sein? Welche sinnstiftenden Funktionen übernehmen sie? Gedanken zur Rolle journalistischer Produkte.
Nachstehend ein Auszug aus Martin Gertlers Epilog zum neuen Buch »Medien zwischen Ökonomie und Qualität – Medienethik als Instrument der Medienwirtschaft« von Mike Friedrichsen und Martin Gertler.
Überprüfbarkeit ist nicht nur ein international angewandtes, wissenschaftliches Qualitätskriterium – auch im Journalismus zählt dieses Merkmal. Aber in vielen Situationen übernehmen Journalisten die PR-Meldungen aus Politik und Wirtschaft, ohne jeweils die möglicherweise ihnen gar nicht gegebene Überprüfbarkeit anzumerken.

Osama Bin Laden? Fotomontage aus dem Internet...
Ob etwa am 1. Mai 2011 tatsächlich jemand namens Osama Bin Laden von amerikanischen Soldaten aufgespürt und erschossen wurde, ist für niemanden überprüfbar, da es keine unabhängigen Beobachter gab und da die Leiche sogleich ins Meer geworfen worden sei, wie die amtlichen Stellen und infolgedessen die Medien berichteten. Für den Wissenschaftler muss eine solche Todesmeldung mangels Überprüfbarkeit als Behauptung eingestuft werden, nicht aber als eine Tatsache, die stets in irgendeiner Weise überpüft werden kann.
Berichte zu politischen Themen waren dem kritischen Rezipienten schon immer suspekt. Während des Ersten Weltkriegs hatte sich beispielsweise, wie Johan Hemels recherchiert hat, ein Teil der Niederländischen Journalisten von der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie bestechen lassen. Zwar habe es damals Gerüchte über Zahlungen aus Berlin gegeben, tatsächlich aber gab es monetär gestützte Manipulationen aus Wien (vgl. Hemels 2010, S. 202). Hemels verweist auf die Aktualität dieses Themas, das er in Zusammenhang bringt mit dem im Sinne der Kriegsführenden sinnstiftenden Phänomen des »Embedded Journalism« und mit jenen bekanntlich unwahren Geschichten, die von der PR-Agentur Hill & Knowlton während des Golfkriegs in die Presse lanciert wurden.
Medien und Wahrheit
Der österreichische Physiker Heinz von Foerster, der an der Universität von Illinois das Biologische Computer-Laboratorium errichtet hatte und als einer der Begründer jener Erkenntnistheorie gilt, die als »Konstruktivismus« bezeichnet wird, formulierte als hermeneutisches Prinzip, dass der Hörer derjenige sei, der die Bedeutung einer Aussage bestimme, nicht aber der Sprecher. Damit widerspricht er entschieden der gängigen Auffassung, dass der Sprecher festlege, welche Bedeutung seinen Aussagen zukomme, und dass der Hörer verstehen müsse, was gesagt wurde. Nüchtern stellt er fest, dass der Hörer die vernommenen Laute interpretiere und ihnen Sinn gebe (vgl. Von Foerster & Pörksen 2008, S. 100). Übertragen auf journalistische Medienprodukte bedeutet dies, dass die Mediennutzer selbst entscheiden, was sie von den Mitteilungen für wahr oder sinnvoll oder nützlich halten und was nicht.

Medien zwischen Ökonomie und Qualität – Medienethik als Instrument der Medienwirtschaft
Heinz von Foerster berichtet in seinem Gespräch mit Bernhard Pörksen, das unter dem Titel »Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners« bereits in zahlreichen Auflagen seit 1998 erschien, dass er zu einem Vortrag vor angehenden Journalisten an der Stanford University den Satz »Tell it as it is!« über der Tür gesehen habe und dass er seine Rede daher mit dem Hinweis begann, jener Satz müsse eigentlich so heißen: »It is as you tell it!«. Die ursprüngliche Formulierung diene den Journalisten bloß dazu, sich selbst zum »Taperecorder« zu stilisieren und die Verantwortung für die eigene Berichterstattung nicht wahrnehmen zu wollen.
Von Foerster beschreibt die Arbeit des Journalisten dagegen so, dass er ein Geschehen beobachte und seine Sprache einsetze, mit der er erst erzeuge, was gewesen sei: »Kein Mensch weiß, wie es war. Das Gewesene ist allein durch die Erzählungen anderer Menschen rekonstruierbar. Alle Darstellungen der Vergangenheit sind Erfindungen von Leuten, die über die Vergangenheit sprechen.« (Von Foerster & Pörksen 2008, S. 100)
Aus dieser Perspektive lässt sich die gängige Vorstellung von Wahrheit im Sinne einer Abbildung von Realität in den journalistischen Medien nicht aufrechterhalten. Stattdessen wird der Journalist zu einem, der durch seine eigene Konstruktion von Wirklichkeit in Medien für Wirklichkeitsangebote sorgt, die von den Rezipienten wiederum für ihre je eigene Wirklichkeitsbildung genutzt werden können. Dabei sorgen Medien für immer neue Konstruktionsangebote – nur so können sie sich am Markt halten, denn nur so sind die Nutzer bereit, für sie zu zahlen.
Auch der Blick auf die journalistischen Arbeitsprozesse zeigt, dass die Medienproduktion nicht zur Wahrheitsproduktion dienen kann. Die journalistische Medienproduktion vollzieht sich in ihren eigenen Systemen und unterliegt dabei prinzipiell unterschiedlichen Selektionsprozessen:
- Zum einen gelten Nachrichtenwerte und Nachrichtenfaktoren wie Zeit, Nähe, Status, Dynamik, Valenz, Identifikation und Umsetzbarkeit in Bilder (vgl. Ruß-Mohl 2003, S. 124 - 139 ). Weitere Selektoren sind Neuigkeitswert, Konfliktanteile, Quantitäten, lokaler Bezug, Normverstöße / Skandale und geäußerte Meinungen (vgl. Luhmann 2004, S. 58 - 72). Danach gewichten Redaktionen die eingehenden Informationen und wählen aus.
- Zum anderen folgt die Selektion auch verlegerischen, unternehmerischen, politischen und weiteren Interessen, die für das jeweilige Publikationshaus gelten und nicht immer offengelegt werden.
Wo so viel Auswahl erfolgt, wo gewichtet und dazu passend in Umfang und Tonalität verkürzt oder vertieft berichtet wird, kann nur von Konstruktion die Rede sein, nicht aber von Wahrheit. Dennoch halten Menschen für wahr, was ihnen via Medien berichtet wird – wie sie auch für wahr halten, was ihnen im Gespräch mit der Nachbarin am Gartenzaun berichtet wird, sofern sie sie für glaubwürdig halten.
Medien und Sinngebung
Der Journalist kann also nicht ein verlässlicher Bote der Wahrheit sein, dennoch trägt er stets zur Sinnstiftung der Rezipienten bei. Dessen sollte er sich bewusst sein. Seine eigene Weltanschauung wird dort einfließen, wo er nicht nur berichtet, sondern auch kommentiert. Weltanschauung soll hier als das verstanden werden, was das Wort sagt: die Art und Weise, wie jemand die Welt sieht. Dabei lassen sich auch im Studium erworbene oder vertiefte Paradigmen, etwa über die Sinnhaftigkeit unseres politischen und wirtschaftlichen Systems, als Bestandteile von Weltanschauung wahrnehmen. Impulse von Management-Gurus und Machbarkeits-Ideologen sowie von explizit weltanschaulichen und religiösen Gruppierungen zählen dazu.
Auch für den Journalisten dürfte eine Auseinandersetzung mit solchen Fragen hilfreich sein, um seine eigene Rolle bei der Sinngebung der Rezipienten zu verstehen. Er hält es bei seiner Arbeit mit der eigenen Wirklichkeitskonstruktion nicht anders als seine Rezipienten: Er vertraut den einen mehr, den anderen weniger. Somit wird er die für ihn glaubwürdigeren Quellen wie auch die für ihn glaubwürdigeren Positionen bevorzugt weiterkommunizieren. So kommt es gar zu direkten sprachlichen Sinnstiftungen, etwa wenn in journalistischen Berichten über Gewalt im Nahen Osten bei der einen Seite von »militanten Kämpfern« die Rede ist, bei der anderen Seite von »Sicherheitskräften«, selbst wenn es sich dabei um Überfallkommandos handelte.
Am Tag des Bombenanschlags in Oslo und des Massakers auf der Insel Utøya im Juli 2011 berichteten die Medien zunächst von »Terroranschlägen« – als sich aber abzeichnete, dass es sich um einen Einzeltäter handeln könnte, bezeichneten sie ihn nur noch als »Attentäter« und als »Verrückten«, wohl weil im Unterschied zu noch so kleinen Gruppierungen üblicherweise einem Einzelnen keine politische Motivation zuerkannt wird, was hier erkennbar dennoch der Fall war.
Die genannte Glaubwürdigkeitsspirale kann bei Journalisten sogar so weit gehen, dass unprüfbare Meldungen staatlicher Stellen als Tatsachen gemeldet und kommentiert werden. Der eingangs erwähnte, behauptete und nicht überprüfbare Tod eines Osama Bin Laden wurde gar von Journalisten gerechtfertigt; dies geschah angesichts der ebenfalls nicht überprüfbaren »Tatsache«, dass er für mehr als 3.000 Tote in New York im Jahr 2001 verantwortlich und daher einer der größten Bösewichte gewesen sei. Die hingegen für jedermann überprüfbare Tatsache, dass das FBI explizit nur wegen Verbrechen außerhalb der USA nach ihm fahndete und ihn offenbar nicht dessen bezichtigte, was Politik und Medien über ihn behaupteten, blieb außen vor (vgl. http://www.fbi.gov/wanted/wanted_terrorists/usama-bin-laden).
Selbst wenn aus konstruktivistischer Perspektive der Empfänger der Nachricht deren Bedeutung bestimmt und nicht der Sender, und selbst wenn daher Medien nicht Wirkungen zugeschrieben werden können, die unabhängig vom Wollen der Nutzer entstehen, leisten doch auch solche fragwürdigen Medienangebote ihren Beitrag zur Wirklichkeitskonstruktion ihrer Rezipienten und damit auch zu Konsens- und Sinnstiftungskonstruktionen innerhalb von Gruppen und Gesellschaften.
Literatur
- Hemels, Joan (2010): Een journalistiek geheim ontsluierd: de Dubbelmonarchie en een geval van dubbele moraal in de Nederlandse pers tijdens de Eerste Wereldoorlog. Spinhuis Uitg., Apeldoorn.
- Luhmann, Niklas (2004): Die Realität der Massenmedien. 2. Aufl., Westdeutscher Verlag, Opladen.
- Ruß-Mohl, Stephan (2003): Journalismus: das Hand- und Lehrbuch. Frankfurter Allgemeine Buch im FAZ-Institut, Frankfurt am Main.
- von Foerster, Heinz/Pörksen, Bernhard (2008): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Gespräche für Skeptiker. Carl-Auer-Systeme-Verlag, Heidelberg.