Wissenschaftsrat gegen die zunehmende Publikationsflut
Mit dem Begriff der »wissenschaftlichen Integrität« will der Wissenschaftsrat den Blick über die grundlegenden Regeln einer guten wissenschaftlichen Praxis hinaus erweitern: Es geht um eine Kultur der Redlichkeit und Qualität - und damit auch um eine Reduktion der »Publikationsmasse«.
Für die Anwendung und Verinnerlichung von Regeln sei eine Haltung der Integrität wichtig. Zu den Rahmenbedingungen der Integrität zählten die Vermittlung guter wissenschaftlicher Praxis vom Beginn des Studiums an, gute Beratung und Aufklärungsstrukturen in Konfliktfällen sowie eine stärkere Ausrichtung auf Qualität als auf Quantität in der Forschungs- und Publikationspraxis.
Die jüngsten Empfehlungen des Wissenschaftsrates widmen sich nicht nur gravierenden Fällen des Wissenschaftsbetrugs wie Datenfälschung oder Plagiaten, sondern betrachten auch die Grauzonen nicht integren oder unverantwortlichen Verhaltens.
Es geht um alle Forschungsprozesse sowie um das Studium als entscheidende Phase für die Entwicklung wissenschaftlicher Integrität.
Kritik an der Verlagspraxis
Der Wissenschaftsrat erwartet von Herausgebern, den Zugang zu Forschungsdaten und die Transparenz des Forschungsprozesses insgesamt zu befördern. Die Publizierbarkeit von Replikationsstudien und negativen Forschungsergebnissen seien zu verbessern. Die Verlagspolitik dürfe nicht zu einer selektiven Auswahl von Forschungsthemen führen und damit Anreize für wissenschaftliches Fehlverhalten setzen. (S. 30/31)
Kritik an der Zitationspraxis
Mit deutlichen Worten beklagt der Wissenschaftsrat den hohen Publikationsdruck und die stark quantitativ ausgerichtete Leistungsbewertung in der Forschung. Hier seien langfristige Veränderungen notwendig, die auf nationaler Ebene allein nicht zu bewirken seien.
Indikatoren auf der Grundlage von Zitationsdatenbanken reichten nicht aus, um die Qualität von Forschung zu bewerten bzw. könnten verzerrend wirken, so das Positionspapier. Einfache Zitationsindikatoren beförderten Zitierkartelle bzw. seien durch diese manipulierbar. Monographien und andere Indikatoren für Forschungsleistungen wie Preise, Patente, eingeladene Vorträge u. a. blieben in jenem Bewertungssystem unberücksichtigt.
Der Wissenschaftsrat fordert, dass Hochschulen und Förderorganisationen mehr qualitäts- statt quantitätsbezogene Kriterien in der Leistungsbewertung berücksichtigen, und verweist auf die DFG-Richtlinie, die die Beschränkung auf die wichtigsten Publikationen bei Anträgen und Berichten an die DFG vorgibt. (S. 31/32)
Kritik an der Publikationsmenge
»Der Wissenschaftsrat weist erneut darauf hin, dass unrezipierbare Mengen von Publikationen den eigentlichen Sinn der Publikationspflicht konterkarieren, die ursprünglich der Kommunikation und Überprüfbarkeit neuer Forschungsbeiträge durch die wissenschaftliche Gemeinschaft dienen sollte. Alle Akteure sind dazu aufgerufen, den langfristig notwendigen Wandel hin zu einer stärker qualitativen Forschungsbewertung und damit Reduktion der Publikationsmasse zu befördern.« (S. 32)
In diesem Zusammenhang weist der Wissenschaftsrat darauf hin, dass Alternativen für die Funktion der innerwissenschaftlichen Forschungsbewertung inzwischen Modelle wie z. B. Open-Review-Verfahren oder Post-Publication-Review im Gespräch sind.
Kritik an der Intransparenz bei gemeinsamen Publikationen
Auch kritisiert das Positionspapier die Intransparenz der einzelnen Forschungsleistungen bei den zahlreichen gemeinsamen Publikationen, die inzwischen international üblich sind und zu denen ausländische Universitäten mitunter vom Geldgeber - auch der öffentlichen Hand - verpflichtet werden, nach dem Motto: mehr Output = mehr Leistung:
»Schließlich müssen für gemeinsame Publikationen klare Standards etabliert und eingehalten werden, welche die Einzelleistungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler transparent darstellen. Sie sollten durch die Fachgesellschaften und Fakultätentage festgelegt und in den jeweiligen Forschungsgruppen zu Beginn des Projektes als verbindlich kommuniziert werden.« (S. 33)
Kommentar: Gegen den Trend gebürstet
Mit diesem Positionspapier greift der Wissenschaftsrat internationale Gepflogenheiten an, die seinem Verständnis einer guten wissenschaftlichen Praxis substantiell widersprechen.
Dass etwa die Menge der (mit wem auch immer gemeinsamen) Publikationen und die der Zitationen ein glaubwürdiger Indikator für wissenschaftliche Qualität sei, hatte sich dem nüchtern Denkenden noch nie erschlossen.

Gesehen bei ResearchGate.net. Wie substantiell können so viele Publikationen sein - welche eigenständige Untersuchung lässt sich binnen weniger Wochen durchführen und abschließen?
Und problematisch ist, dass ministerielle Finanzplaner in Nachbarländern die Anzahl der Publikationen und Zitationen zur Bemessung der Finanzierung von Stellenplanung und Forschungsmittel verwenden.
Solches verführt zu einem nicht mehr zu bremsenden opportunistischen Denken: Man verpflichtet jeden, den man bei einem Promotionsvorhaben betreut, auf z. B. vier Publikationen in Journals und beansprucht dabei traditionsgemäß, zusammen mit den anderen Betreuern als Mitautor genannt zu werden.
Dieses Modell lässt sich auch auf alle Mitwirkenden an Forschungsprojekten und auf die Verwertung von regulären Abschlussarbeiten ausweiten. So kann ein Prof problemlos an ein Dutzend gelistete Publikationen pro Jahr gelangen, ohne auch nur eine Zeile selbst geschrieben und erforscht zu haben.
Hinzu kommt, dass jedesmal alle vorherigen gemeinschaftlichen Publikationen zitiert werden - schon steigt der Zitationsfaktor.
Da Deutschland ein nicht unbedeutender Standort der Forschung ist, dürfte dieses wichtige Positionspapier des Wissenschaftsrats - als »Empfehlung« bezeichnet - für ein Aufhorchen in einer auf Quantität statt Qualität orientierten Forschungs- und Finanzierungswelt Europas und darüber hinaus sorgen.